Wie die Welt von morgen aussehen wird – die Mitglieder des Übersee-Clubs wissen es häufig schon vorher. Weil in Hamburgs schönstem „Sprechsaal“ Experten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur visionäre Vorträge halten. Damit folgt der Club immer noch den Ideen seines Vordenkers Max Warburg.
Die Gründungsversammlung des Übersee-Clubs fand am 27. Juni 1922 im Großen Saal des „Patriotischen Gebäudes“ statt. Dort, wo viele Jahrhunderte lang das Hamburger Rathaus stand, sollte „eine Gemeinschaft von Kaufleuten, Industriellen, Bankiers und Wissenschaftlern“ entstehen „mit dem Fernziel, die deutschen Wirtschaftsinteressen im Ausland wieder aufzubauen“, basierend auf den Ideen des Bankiers Max M. Warburg besannen sich Teile des hanseatischen Bürgertums in der aufgeheizten Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg auf das Wesentliche: auf das Geschäft, auf Sachlichkeit, Pragmatismus, Bodenständigkeit und die Frage, wie man nach dem verlorenen Krieg Hamburgs internationale Wirtschaftsbeziehungen wiederbeleben könne. Dafür sei es unerlässlich, so Warburg, „dass die Kaufleute der verschiedensten Länder irgendeinen Mittelpunkt einer Handelsstadt hätten, in dem Vorträge und Kongresse wirtschaftlicher Art sich abhalten ließen“.
Ausblick
Wer heute den Übersee-Club betritt, vergisst sofort den Alltag: Marmorsäulen, englische Clubmöbel, zarte Stuckaturen und klassische Ölgemälde schaffen eine unverwechselbare Atmosphäre, die historischen Anspruch mit der Einladung zum Relaxen verbindet. Der Club residiert in einem der letzten in Hamburg existierenden klassischen Palais, 1831 von einem Mitglied der Kaufmannsfamilie Jenisch erbaut und 1899 von dem Kaufmann und Bankier Gustav Amsinck erworben – seitdem heißt es „Amsinck-Palais“ oder „Amsinck-Haus“. Seine Schönheit verdankt es einerseits seinem Architekten Gustav Forsmann, andererseits dem entschiedenen Engagement des Übersee-Clubs, der das Haus 1968 vor Verfall und Abriss rettete. Mit dem großen Clubraum im Erdgeschoss sowie der ihm angeschlossenen Bar, der repräsentativen Treppe mit ihrem so klassischen wie unterhaltsamen Amor-und-Psyche- Fries und der Reihe kleinerer, individuell gestalteter Speiseräume im ersten Stock bietet das Amsinck- Haus seit 1970 den idealen Rahmen für ein lebendiges und vielfältiges Clubleben.
Die Strahlkraft des neuen Clubs drückte sich schnell in der Zahl der Mitglieder aus: Schon in den ersten Monaten waren es 1500, zwei Jahre später bereits 3000. Angezogen wurden sie unter anderem von der Prominenz und den Ideen der Redner. Die im Übersee-Club gehaltenen Vorträge analysierten damals wie heute zumeist Herausforderungen der Gegenwart und entwarfen Konzepte für die Zukunft. Das Themenspektrum umfasste Wirtschaft und Politik, aber auch Kultur, Wissenschaft, Technik. Neben Reichspräsident Friedrich Ebert hielten Gustav Stresemann – damals Außenminister, später Reichskanzler –, der weltberühmte Ökonom John Maynard Keynes oder der einflussreiche Philosoph Oswald Spengler viel beachtete Reden.
Nach der Machtergreifung der Nazis Anfang 1933 wurde im Dezember die Auflösung des Clubs beschlossen und im Mai 1934 umgesetzt. Es sollten 14 Jahre vergehen, bis er sich neu gründete. Es gab nach 1948 einige meist kurzlebige Neuerungen, unter anderem Hauskonzerte und Tanzveranstaltungen, aber im Kern ist der Übersee-Club immer noch der Ort, den Warburg sich vorgestellt hatte. „Dieser Club ist seit seiner Gründung vor 100 Jahren der Sprechsaal geblieben, den der Gründer Max Warburg damals so geplant hatte“, sagt Michael Behrendt, seit 2012 Präsident des Übersee-Clubs. „Und das wird er auch in Zukunft bleiben.“
Unter anderem waren fast alle Bundespräsidenten und -kanzler zu Gast, dazu kamen weitere bekannte Redner aus dem In- und Ausland, darunter Charles de Gaulle, François Mitterrand, Bruno Kreisky, Boutros Boutros-Ghali, Jassir Arafat und Valéry Giscard d‘Estaing.
Ein besonderes Highlight gibt es jedes Jahr zu feiern: den Übersee-Tag mit einem festlichen Abendessen im Hotel Atlantic und einer Rede eines hochkarätigen Gasts; alle zwei Jahre wird der Große Übersee-Tag daraus, mit einer zusätzlichen erstklassig besetzten Morgenveranstaltung, bei der Hamburgs Erster Bürgermeister ebenso spricht wie herausragende Gäste von Angela Merkel über Karl Kardinal Lehmann bis Edmund Stoiber.
Die nächsten 100 Jahre
VON MICHAEL BEHRENDT
Natürlich, was wir im Übersee-Club bieten, wirkt auf den ersten Blick traditionell: „Ordentlich“ gekleidete Menschen versammeln sich, um jemandem zuzuhören und über seine Ausführungen nachzudenken. Das tat man schon vor 100 Jahren. Aber heute, in einer Zeit, in der wir doch alle Informationen jederzeit über unser Smartphone bekommen könnten, in der uns jede Nachricht, ob wichtig oder nicht, als „Breaking News“ digital serviert wird? Es ist meine feste Überzeugung: Eine Institution wie unsere wird auch im 21. Jahrhundert gebraucht. So, wie die Wochenzeitungen und -magazine vergleichsweise vom Auflagenniedergang der Tageszeitungen verschont bleiben, wird es jenseits des Schnellen und Aktuellen immer auch eine große Nachfrage, ja einen Durst nach fundierter Information, nach Einordnung und Hintergrund und nicht zuletzt nach der exklusiven, persönlichen Begegnung mit interessanten und bedeutenden Persönlichkeiten geben. Auch für den Übersee-Club gilt aber: Nur wenn wir uns wandeln, werden wir unsere Bedeutung erhalten. Und das erschöpft sich keinesfalls an der oberflächlichen Frage, wann die Herren bei uns nun Krawatte tragen sollten oder nicht. Uns ist bewusst, dass wir heute durchaus mit vielen anderen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung konkurrieren, denen sich viele Menschen bis ins hohe Alter widmen. Und es ist sicher enorm schwierig, jüngere Mitglieder in der „Rushhour des Lebens“ dazu zu bekommen, abends auch noch einem Vortrag im Amsinck-Haus zu lauschen. Darauf müssen wir intelligente Antworten finden, und das werden wir. Wie immer die Diskussionen bei uns ausgehen mögen: Mir ist nicht bange um die nächsten 100 Jahre, im Gegenteil. Der Übersee-Club als Zentrum des intellektuellen Austauschs hat Zukunft. Gerade heute.